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Die Frau im schwarzen Mantel steht in der Schneelandschaft wie ein schwarzer Punkt auf weißem Papier. Sie hat den Mantelkragen hochgeschlagen, wollene dunkle Fausthandschuhe an den Händen. Weder ein Schal, noch ein Wolltuch oder ein Hut schützen ihr Gesicht, ihren Kopf, ihr helles Haar, mit dem der Wind spielt. Der Wind scheint ihr nichts auszumachen. Sie spürt ihn nicht. Ebenso wenig die Kälte, die trotz Sonnenschein die Äste der Bäume knacken lässt.
Die Frau hält eine derbe Ledertasche in der rechten Hand. Dunkelbraun und sichtlich abgewetzt, so wie Menschen eine tragen, die Abschied nehmen.
Streng und aufrecht steht sie auf dem verschneiten Weg. Eine Haltung, die Menschen einnehmen, die etwas zerstört haben, das ihnen viel bedeutet oder sich von etwas verabschieden, das sie lieben.
Nichts deutet darauf hin, dass sich hier, in diesem Moment ihr Leben an einem Wendepunkt befindet. Kein Zeichen, kein Laut, kein Wort. Als hielte die Welt für einen Moment die Luft an.
Wendepunkte wie dieser kündigen sich oftmals lange vorher an, aber wenn sie da sind, braucht es Mut, sie zu erkennen.
Sie gibt sich Mühe, Halt zu finden auf dem eisigen Untergrund. Der Schnee liegt in diesem Winter besonders hart und fest auf dem Weg. Die Männer des Dorfes hatten in den letzten Tagen große Mühe einen kleinen Trampelpfad in den vereisten Schnee zu hacken. Mehr war nicht drin, zu nass und schwer fielen die Flocken über Nacht.
Die wenigen Fußabdrücke im verharschten Schnee machen die Unterfläche rutschig. Die Kälte dringt schneller als gedacht durch die dünnen Sohlen ihrer Schnürstiefel und schon spürt sie wie ihre Füße taub werden.
Sie hat sich noch einmal umgedreht und schaut zurück auf das Haus, den mit Schneehügeln bedeckten Garten, die weiß schimmernden Wiesen und die mit einer weißen Haube bedeckten Fichten gegenüber im Wald.
Kein Laut ist zu hören, dabei ist es längst Nachmittag. Die Menschen nehmen den Winter ernst und lassen sich von der Kraft der Sonne nicht blenden.
Und doch meint sie, hinter den Mauern Stimmen zu vernehmen, raue, laute Stimmen. Männerstimmen.
Sie packt die Tasche fest und streckt den Rücken.
Sie hat eine Entscheidung getroffen und die wird man ihr nicht verzeihen. Die Männer nicht, weil sie keinen Widerstand ertragen und die Frauen nicht, weil der Neid sie krank macht.
Sie hat einen Schritt gewagt und etwas Grundsätzliches beendet. Eine Unverzeihlichkeit, die ihren Preis hat.
Sie hat sich befreit. Aber Freiheit in diesen Zeiten, für eine Frau wie sie, ist gefährlich.
Die Frau im schwarzen Mantel hebt den Blick, kneift die Augen zusammen, nimmt Stück für Stück des schwarz-weißen Fachwerkhauses in sich auf. Mitsamt den Erinnerungen, den Worten und Taten, die das Haus in sich zurückzuhalten versucht, legt sie eine Art innere Festplatte an, um sie ein Leben lang zu bewahren.
Schon meint sie im oberen Stockwerk hinter der Gardine am mittleren Fenster ein Kindergesicht zu erkennen. Die Kleine mit den grünen Augen. Die, die all ihr Wissen vor lauter Angst in ihrer hintersten Ecke vergräbt. So wie sie selbst es getan hat, all die Jahre bis schließlich der richtige Zeitpunkt kam. Nicht überraschend, aber unwiderruflich.
Wieder und wieder wandert ihr Blick am Haus entlang, hinauf und hinunter, Fenster für Fenster, während die Sonne sich im Glas der vereisten Fensterscheiben spiegelt und in den Eiskristallen der unberührten Schneelandschaft.
Auf was wartet sie, auf was?
Es ist alles gesagt.
Es gibt kein zurück.
Die Sonne vermag das Haus nicht aus dem Schatten zu holen, obwohl rund herum nichts ist, was einen Schatten wirft. Grau, fast schwarz steht es da, stumm.
Das Haus mitsamt seinen Bewohnern hat ihr nichts mehr zu sagen.
„Es ist alles gesagt“, waren die Worte des Bruders.
Als sie bei seinen Worten den Kopf hebt, seinen Blick einzufangen versucht, der sich hinter Zorn und Wut verbergen will, nickt sie und geht.
Die Frau in schwarzen Mantel seufzt, wendet sich ab, blickt sich um.
Die wenigen Häuser des Dorfes verstecken ihr Unverständnis hinter vereisten Fensterscheiben. Selbst der Qualm aus den Kaminen wendet sich von ihr ab und zieht nach Westen.
Die Gewissheit, niemals wieder an dieser Stelle zu stehen, niemals wieder die kühle Schneespur des Weges hin zu ihrem Elternhaus zu betreten, schärft ihre Sinne, um all die Bilder ihrer Heimat in sich aufzunehmen und zu bewahren.
Das Haus, der Weg, der frisch gefallene glitzernde Schnee, der Wald und noch einmal das Haus, verschlossen und unversöhnlich.
Konsequent verbietet sie sich jegliche Gedanken an die Menschen hinter den verbohrten Mauern. Lediglich das Kindergesicht hinter der Gardine im oberen Stock sticht ihr ins Herz.
Es ist spät geworden. Es wird Zeit für sie.
Entschlossen wendet sie sich ab, setzt den ersten Schritt auf eine andere Zeitlinie.
In ihrer Tasche nur wenige Habseligkeiten.
Ihr wertvollstes Gepäck, ihr Wissen um die Macht der Liebe, trägt sie auf andere Weise mit sich fort.