Sekunden nur, schon ist sie weg.
Hier ist sie selbst schon fast nicht mehr.
Es fehlt das was sie immer war.
Etwas ist anders, und Stille drängt sich quälend ruhig.
Die Venen auf ihren Handrücken schlängeln sich dunkel unter papierner Haut.
So dunkelstill liegen die Finger nebeneinander und plappern stumm auf der weißen Decke ihres Bettes.
Dabei ist es nicht einmal ihr Bett. Auch das wurde ihr bei Überschreiten in die Lichterwelt genommen.
Kein eigenes Bett, keine eigene Decke.
Fremde Gerüche, fremde Luft.
Kaum etwas da, das sie nicht längst zurückgelassen hat.
Nur ich und die Schwester am Fenster, die mit geröteten Augen auf etwas starrt, was irgendwann geschehen wird, weil heute dieser Tag ist.
Ein fremdes Zimmer hier in Krankenhaus.
Ein Zimmer extra hergerichtet für diese Tage, die wie Tore sind oder Sprungbretter in das was niemand sieht und alle fürchten.
Hier ist sie selbst schon fast nicht mehr.
Von Augenblick zu Augenblick schiebt sich ein altes Etwas durch den Raum, steht still in allen Ecken, sanftmütig wartend auf das Signal, das in ihr lauert und sie erst erreichen wird, wenn sie es will.
Und auch wenn sie nicht mehr hier ist, und die Stille nur und ich und die Schwester am Fenster, wartend auf das Öffnen einer anderen Welt, uns gegenseitig in den Haaren raufend, so ist sie mit
einem Mal für mich so nahe wie sie es niemals war.
Und ich nehme diese blaugeränderten Hände, lege sie an meine Wange.
Sehe wie sie mich als kleiner Mensch empfängt und in den Armen hält mit liebevollem Blick.
Da ist es plötzlich in mir drin und um mich rum und fehlt nicht mehr.
Ein einziges Mal noch senkt es sich von ihr auf mich.
Und auch wenn es umgekehrt geschieht, so geschieht es doch so schmerzensvoll und sehnsuchtsgroß und endlich, endlich öffnen sich meine Kinderaugen und weinen nicht nur mehr um sie, sondern
um diese Nähe, wie es sie niemals gab, achtundvierzig Jahre nicht, und doch war sie da.
Wir fühlten sie nicht und suchten sie. Wir wussten nichts von ihr und vergaßen sie.
Und obwohl sie selbst fast nicht mehr hier ist, mit irgendwas schon irgendwo, so legt sich nun ihr Atem zwischen mich und sie und wartet länger und weiter länger und droht sich bald im Warten
zwischen Ein und Aus, aus den Augen zu verliehen. Und mit ihm diese Nähe, die ich halten will, weil ich sie immer suchte.
Und Tränen tropfen auf ihre Hände in der Stille des alten Etwas, das die Farbe wechselt.
So schiebt sich wie ein rascher Nebel ein helles Licht unter ihre Haut und hellt sie heller, sanft und würdevoll.
Die Schwester am Fenster zieht die Schultern hoch und unsere Blicke treffen aufeinander und wissen das was jeder weiß, wenn ein altes Etwas sich herabbeugt und das Herz berührt.
Von Jetzt zu Jetzt stellt ihr Atem das Atmen ein und gibt nun Ruh, und auch die dunklen Venen ihrer Hand verlassen alles Sein und bleiben wo sie sind, so ruhig und warm und bald nicht mehr.
Sekunden nur, schon ist das letzte bisschen von ihr selbst verflogen und lässt mir etwas wie ein Wunder da.
Ein Blick in das was immer war, so nah und doch so unerreicht.
Geschenkt in einem Augenblick der Liebe und der Vergänglichkeit der Welt.
Die Schwester hat den Kopf gebeugt und weint.
Sie hat verloren was ich soeben fand.
Jetzt bin ich keines Menschen Kind mehr.
Jetzt ist auch meine Mutter irgendwo.
Und ich bin hier und habe gerade erst erkannt, dass diese Hände mich als Kind getragen haben und ich ihr nah war, irgendwann.
Dass Liebe floss, die nicht vergänglich ist.
Die Liebe die sich jahrelang verstecken konnte hinter hohlen Phrasen und Mauern, die ins Nichts hinab, und die sich plötzlich zeigt ganz ohne Worte so weich und sanft und stark, und die das Tor für einen Augenblick sich öffnen ließ, um zu vergeben
bis in alle Ewigkeit.
Und lächelnd öffne ich das Fenster hin zur Straße und hole mir das Leben zu mir hin.
Und lasse ihre liebe Seele fliegen,
so frei und ohne Schmerzen durch das Tor.