Aufgetaucht
Da ist doch etwas. Da ist doch etwas Anderes, etwas dahinter.
Taucht auf wie ein Hauch, lässt sich nicht festhalten, zeigt sich wie eine leichte Ahnung, eine Vermutung für einen Augenblick.
Ein Gefühl, wie wenn das Licht der Sonne sich in Farben spiegelt, die vorher nicht sichtbar oder spürbar sind.
Wie das Blau der Morgendämmerung im Winter, das Rot der Wolken beim Sonnenuntergang nach einem heftigen Regen, das kiebige Orange mitten im krachenden Donner.
Da ist doch etwas.
Es streift mich. Ich kneife die Augen zusammen, versuche zu sehen, zu finden. Nichts. Und dann…
Ein seltsamer Morgen ist das, reißt mich heraus aus einer Normalität, einer Übersichtlichkeit, einer matten Lebensbereitschaft. Dabei bin ich an diesem Morgen noch gar nicht angekommen aus der Nacht, liege in meinem Bett, hänge mit einem Teil noch mittendrin in unruhigen Traumfetzen.
Dieser Morgen, in den ich da hineingleite, beruhigt und irritiert mich gleichermaßen. Es ist so still in diesem Raum und so leicht.
Und doch flattert etwas Nervöses in meinem Bauch, so als würde ich beobachtet. Als stände da jemand hinter mir, hinter der Wand oder über mir, irgendwo und lächelt über mich, so wie man über Kinder lächelt, die von Feen träumen.
Nicht zum Aushalten ist das.
Schon springe ich aus dem Bett, rasch hinüber ins Bad.
Claudius berührt mit der Nase fast den Spiegel. Die Knie durchgedrückt mit gespreizten Beinen, rasiert er sich und sieht mich an.
Sieht mich aus dem Spiegel heraus an.
Dunkle Augen, Stirnfalte. Schaut in mein Gesicht und an mir herunter, fragend ohne Worte.
In mir, diese weiche Ruhe. Immer noch, merkwürdig.
„Gut geschlafen, Schatz?“
Ich denke nach.
Suche eine Antwort auf seine Frage, hoffe auf leichte Worte, nur um anzuknüpfen.
Eine Antwort die gar nicht erwartet wird, weil die Frage bereits die Antwort ist und er mir die Worte die ich nicht auf die Schnelle finde, erlässt, indem er mir seinen Tag erklärt.
Es wird heute länger dauern, erklärt er, der Wagen in die Werkstatt,
das Einkaufen heute meine Aufgabe und jetzt muss er sich aber wirklich beeilen.
„Nein,“ sagte ich.
„Nein? Was meinst du?“
„Nein, ich habe nicht gut geschlafen.“
Unter meinen Füssen kribbelt die Kälte der dunkelblauen Fliesen. Kalter, fremder Boden, so deutlich jetzt die Fremdheit, hier an diesem Morgen.
Ich schlinge meine Arme um meine Brust. Kalt und fremd, unwirklich wie durchlässige Wände im Sturm, der nicht tost, aber im Raum steht.
Heute ist mein freier Tag.
Mittwoch. Habe immer frei, mittwochs. Habe frei ohne es zu sein. Habe frei heißt, nicht acht Stunden in der Bank sein zu müssen.
SEIN müssen, wieder so ein merkwürdiger Ausdruck.
Geschenkte Zeit, diese Zeit, bilde ich mir ein, bisher jedenfalls.
Eine Weile später sitzen wir beim Frühstück wie immer in den letzten 20 Jahren. Die Küche, der Tisch, die Butter, das Brot, Claudius, alles so gewohnt und eindeutig und doch auch wieder nicht.
„Ist etwas“? Claudius kippt den Kaffee, verschluckt sich.
Ich starre ihn an.
„Hey Paula, alles okay?“
Das ist die Standardfrage.
Immer wenn ich nicht so bin, wie ich üblicherweise sein sollte, vermutet er gleich eine Anomalie, eine Erkrankung vielleicht, oder wenigstens eine Befindlichkeitsstörung.
„Ja, nein, alles in Ordnung,“ winke ich ab, kann noch nicht einordnen, wie es wirklich ist.
Einige Minuten später knallt Claudius die Haustür hinter sich zu.
Augenblicklich ist Ruhe, eine weiche Ruhe, eine erleichternde Ruhe irgendwie, aber vielleicht auch etwas ganz anderes.
Für einen Moment setze ich mich auf die Treppe, die nach oben in die Schlafräume führt. Dunkler Flur, fremder Boden unter meinen Füssen. Eine Weile nur, dann stehe auf, gehe Stufe für Stufe hinauf.
Das Bad. Feuchte, warme Luft über kalten Fliesen, stampfende Gerüche. Was mache ich hier?
Und – woher kommen plötzlich all diese Fragen? Mit der Frage nach den Fragen, verschwindet der Druck.
Dieser permanente Druck in der Magengegend, der mich seit Ewigkeiten plagt. Immer in Claudius Gegenwart, so scheint es mir.
Claudius macht mich nervös.
Claudius macht mich nervös?
Die Augen die mich jetzt aus dem Spiegel heraus anschauen, schauen skeptisch.
Nein, denke ich, dieser Druck im Bauch ist nichts was mich plagt. Es ist noch nicht einmal etwas, das schmerzt.
Es ist ein Signal. Etwas das mich erinnert. Aber an was?
Es ist nicht Claudius, nein Claudius hat mit diesem Druck nur am Rande zu tun.
Seine Stimme in meinem Rücken vielleicht. Die Art, wie die Wärme in mir von einer Sekunde zur anderen vereist, wenn, ja wenn was?
Aber auch alle seine Worte, die Artikulation, die Tonhöhe, die Lautstärke, nein alles an Claudius Weise und seiner Art zu sein, plagt mich nicht.
Will mich aber erinnern. Will mich zu etwas zurückführen, etwas tief Vergrabenem, etwas Wichtigem, Wertvollen.
Die Augen die mich jetzt aus dem Spiegel heraus anschauen, warten.
Erinnere dich.
Erinnere
DICH.
Es ist an der Zeit. Mach dir nicht länger etwas vor.
Die Augen die mich aus dem Spiegel heraus anschauen, staunen und lachen.
Lachen.
Kinderlachen.
Und so steht sie plötzlich vor mir, diese eine unumstößliche Gewissheit. So einfach, so tiefenklar, so wahr, an diesem Morgen in der weichen Ruhe vor dem Spiegel im Bad.
Meine Hände ruhen auf meinen Bauch. Fühlen wie meine sich dehnenden und streckenden Zellen tief Luft holen in mir, nach all der vergeblichen Anstrengung das Leben zu finden.
Und die Augen, die mich jetzt aus dem Spiegel heraus anschauen, erkennen etwas, dass ich noch niemals gesehen habe, das vergessen oder verschwunden in mir versteckt, auf den passenden Moment wartet.
Die Augen, meine Augen sehen Eindeutiges, Selbstverständliches, Einzigartiges, aber ich erkenne es noch nicht.
Ich erkenne es noch nicht.
Jetzt bin ich es, die mit der Nase fast den Spiegel berührt, das Gesicht betastet, den Hals. Die sucht und zweifelt und nicht weiß, was sich da gerade in ihr verdreht.
Die Nase, die Stirn, der Mund, die Augen.
Mein lächelnder Mund an diesem Morgen im Bad und Augen, die mich aus dem Spiegel heraus fixieren. Und doch fehlt das Wichtigste.
Alles zusammen entspricht nicht mehr dem Gewohnten, ist aus der Rolle gefallen, und…
es gefällt mir.
Das Telefon klingelt.
Das Telefon
klingelt.
„Ja, hier Paula.“
„Spreche ich mit Frau Winkler?“
„Nein, mein Name ist Benssen, Paula Benssen.“
„Oh, ich dachte dies sei die Nummer von Paula Winkler?“
„So hieß ich vor meiner Heirat.“
„Dann sind Sie vielleicht doch die Richtige.“
„Hm, aber worum geht es, bitte?“
„Ich möchte Ihnen eine Stelle anbieten.“
„Eine Stelle? Ich verstehe nicht.“
„Na, ja, ich möchte Ihnen eine Stelle in meinem Institut anbieten. Ich suche Menschen mit hoher Intuition, die das Leben wertschätzen und anderen Menschen Mut und Hoffnung vermitteln können.“
„Aber, ich habe nur eine Ausbildung als Bankkauffrau.“
„Ach, das habe ich anders gehört. So wie mir bekannt ist, haben Sie Erfahrungen im Zuhören, im Hinschauen, in achtsamem Spazierengehen, in tröstenden Gesprächen und ich glaube noch vieles mehr.“
„Ja, aber ich habe keine spezielle Ausbildung oder so.“
„Ach wissen Sie, mir geht es nur darum wie Sie sind, nicht was Sie für Ausbildungen haben.“
„Aber woher wissen Sie, wie ich bin.“
„Man erzählte mir von Ihnen.“
„Darf ich wissen, wer Ihnen von mir erzählte?“
„Ein Bekannter.“
„Ach.“
„Nun, was sagen Sie. Können wir uns treffen. Vielleicht am Mittag, im Parkcafe?“
Der Augenblick dehnt und streckt sich. Eine heilige Pause zwischen den Zeiten, in der eine Tür sich schließt, eine andere aufgeht und das Dahinter freilässt.
„Ja“, sage und fühle ich.
„Ja“, nicht zu ihr, sondern zu mir und dem was hinter allem steht.
Und das tief vergrabene Gefühl unbändiger, kindlicher Vorfreude umarmt mich, und
ich bin wieder da.