Befreiung

Nach und nach tritt Stille ein. Jemand knistert mit einem Papiertaschentuch, seufzt, schnäuzt sich.

Blumen werden abgelegt. Füllen den Platz vor dem Altar aus, rund um den Sarg.

Der Sarg steht auf einem Podest. Zwei weiße Kerzen flackern mattes Licht von links und rechts.

Der Sarg, verschlossen und kahl inmitten vieler bunter Kränze.

Kaum vorstellbar, dass er dort drinnen liegt.

Aber so ist es wohl.

Die Familie in der ersten Reihe sitzt eng beieinander. Die Köpfe gesenkt mit

hochgezogenen Schultern, jeder mit sich beschäftigt.

Die Gesichter angestrengt und irgendwie erschöpft. Tränen sehe ich nicht.

Links und rechts in den Bänken sammeln sich nach und nach einige wenige meist schwarz gekleidete Menschen.

Hin und wieder grüsse ich mit einem Nicken.

Einige unter ihnen sieht man auf jeder Beerdigung. Frau Kasper zum Beispiel, die leidenschaftlich gerne laut und mit zittriger Stimme die alten Kirchenlieder singt. Frau Herder in ihrem schwarzen Trachtenkleid, wie immer würdevoll und stolz.  Ach ja und Herr Timmerbach, der, seit dem Tod seiner Frau jede Beerdigung besucht, um seinem Schmerz noch einmal zu verspüren.

Und ich? Was mache ich eigentlich hier?

Monatlicher Wochenendbesuch bei meinem Vater. Eingeplante Routine. Dieses Mal jedoch ist der alte Pfarrer gestorben. Was geht mich das an.

„Die Beerdigung“, sagt mein Vater bittend, „geh du doch. Ich schaffe das nicht mehr.“

Die Beerdigung also. Ich hatte diesen Mistkerl längst verdrängt.

Vater wartet mit hängenden Augenlidern auf eine Antwort.

Na gut, in Gottes Namen.

In der Friedhofkapelle brennt schüchternes Licht. Die Temperatur liegt gefühlt um den Gefrierpunkt. Ich setze mich rasch in die nächste Bank und warte ab.

Hinter mir öffnet sich die Tür und Gregor tritt ein.

Hastig zwängt er sich am Kirchenchor vorbei. Kein Blick nach links oder rechts. Nur schnell hinauf auf die Empore.

Hier finden sich langsam alle ehemaligen Konfirmationskinder der letzten fünfzig Jahre ein. Bloß nicht zu nahe heran an den Sarg.

Als könne der Stock noch aus dem Sarg heraus sein Unwesen treiben.

In der Bank vor mir tuscheln drei aufgeregte Mädchen.

Einige Männer des Schützenvereines räuspern sich, werfen ihnen ärgerliche Blicke zu. Verständnisloses Kopfschütteln.

Die Mädchen stört das nicht.

Die Frau des Pfarrers trägt einen roten Schal.

Zuerst dachte ich an eine Spiegelung der Blumen. Aber nein, sie trägt einen roten Schal mit dem ihre Hände spielen, während sie am Sarg vorbei in den Raum starrt.

Emil, der ältere Pfarrerssohn rutscht auf der harten Bank hin und her, hustet, knöpft die schwarze Cordjacke auf und wieder zu. Weiß nicht wohin mit sich. Das hat er früher schon gemacht. Konnte nie stillsitzen. Daran hat auch der Stock des Vaters nichts geändert.

Auch Emil ist Pfarrer geworden, irgendwo im Norden. Lebt in einer Wohngemeinschaft. Mit vierzig, kaum zu glauben.

Wieder knarrt die alte, hölzerne Kapellentür.

Stöckelschuhe auf harten Steinfließen. Eine Duftwolke aus Jasmin und Koriander.

Tatsächlich sie ist es. Henriette.

Ich ziehe den Kopf ein.

Henriette war in unserer Konfirmandengruppe das einzige Mädchen. Sie saß immer neben ihm, dem alten Pfarrer.

„Henriette hier an meine Seite“!

Sie hatte keine Wahl.

Niemand von uns hatte eine Wahl, wenn der Zeigefinger des Pfarrers sich erhob.

Der Platz an seiner rechten Seite war berüchtigt. Zu nahe an seiner lockeren Hand, wenn man ein Junge war.

Bei Henriette war das anders.

Sie wurde von ihm getätschelt oder in die Wange gekniffen. Manchmal legte er seine Hand auf ihre Schulter oder strich ihr über den Rücken.

Wir ärgerten uns über Henriette und ihre Sonderstellung und bemerkten nicht, dass Henriette immer stiller wurde.

Bis sie nicht mehr zum Unterricht kam und die Konfirmation verweigerte. Mit vierzehn trat sie aus der Kirche aus, zog mit den Eltern fort. Keiner wusste wohin.  

Ich verlor sie aus den Augen, nein, ich vergaß sie.

Was für eine Überraschung sie hier zu sehen.

Sie wirkt verändert und auch wieder nicht. Trotz eleganter Kleidung und starker Schminke bewegt sie sich immer noch etwas linkisch. Sie hat mich entdeckt und nickt mir zu.

Dieser dunkle Blick. Immer noch kaum auszuhalten.

Henriette kommt nicht allein. Ein Kind tänzelt um sie herum. Ein Mädchen. Hellblonde, krause Haare, Gummistiefel, grüne Jeans, Schleife im Haar. Typisch Henriette.

Betreten schaue ich ihr hinterher, weiß ja längst, dass die Wahrheit hinter ihrer Sonderstellung eine ganz andere war.

Erstaunlich, dass sie an dieser Beerdigung teilnimmt.

Fast sieht es so aus, als wolle sie dem Alten noch einmal die Stirn bieten.

Oder sich überzeugen, dass er tatsächlich in dieser Kiste liegt.

Vielleicht will sie aber auch hier und jetzt das letzte Wort sagen.

Du hast mich nicht klein gekriegt, du nicht.

Das Kind springt auf die Bank. „Komm hier her, Mama.“

Die Menschen in ihrer Trauerrolle wechseln die übereinander geschlagenen Beine. Holzbänke knarrten. Hüsteln, räuspern, tiefes Atmen.

„Mama, liegt der böse Mann da vorne in dem Kasten?“

Köpfe senken sich. Was kommt jetzt?

Die Holzbänke knarren bedrohlich. Der Sarg steht still und starr. Die Luft vibriert. Weinen oder Lachen, viel wird gerade zurückgehalten, was sich endlich entladen will.

Ich halte den Atem an.

Der rote Schal der alten Pfarrersfrau zittert.

Das Lachen kommt für alle unerwartet.

Beginnt eher wie ein Gurgeln, wie eine Kraft die sich erst den Weg bahnen muss, um schließlich wie befreit die gesamte Kapelle auszufüllen.

Alle starren sie an, als sie sich erhebt, sich umwendet und hineinschaut in die kleine Runde der verblüfften Menschen.

„Ja Sophie“, sagt sie, „da liegt er nun drin der böse Mann. Für immer und ewig. Und nachdem wir ihn unter die Erde gebracht haben, lade ich euch alle herzlich zu Kaffee und Kuchen ein.“