Der Kugelblitz

Der Kugelblitz

Zur gleichen Zeit als meine Freundin die schwarze Kalendermappe ihres Mannes aufschlug und ihrem Leben dadurch einen Knick verpasste,
mühte ich mich ab, auf der übersichtlichen Menükarte des überirdisch teuren provenzalischen Restaurants Worte zu entziffern, die mein unsäglich schlechtes Französisch in ein charmantes, weil bereits leicht angetrunkenes Kauderwelsch transformierten.
Auch wenn ich mit hitziger Stirn und eigenwilligen Stimmbändern meine minderwertigen Vokabelkenntnisse zu überkichern versuchte, blieb mir doch nichts anderes übrig, als meine Bestellung wundertütengleich meinem Liebsten zu überlassen. (Was auch nicht immer funktionierte).
Und während im Oberbergischen ein leichter Sommerwind an den Hortensien im Garten meiner Freundin Annegret wuselte und Annegret ihrem Liebsten einen Rose d`Ottrott über das angeschwitzte weiße Hemd kippte, blähten sich hinter dem Olivenwäldchen des französischen Weingutes, auf dessen Terrasse ein dunkelhaariger Kellner mit Nickelbrille uns eine zweite Flasche Don Perignon öffnete, eine rabenschwarze Gewitterfront auf.
Wir beachteten sie nicht.
Wir beachteten sie nicht, weil sie an diesem Abend nicht in unsere Planung passte.
Unsere Planung, oder sollte ich besser sagen, meine Planung sah nämlich folgendermaßen aus.
Auf wundersame Weise waren wir beide offensichtlich die einzigen Gäste dieses noblen Weingutes in Südfrankreich und hatten den kompletten Nachmittag am Swimmingpool verbracht.
Genossen auf Liegestühlen, die sich wie maßgeschneidert unseren Körpern anpassten, Schatten oder Sonne und ließen uns treiben in wohltemperiertem Wasser ohne Mitschwimmer, mit denen man hätte kollidieren können.
Wir waren die einzigen Gäste, sah man mal von der Hochzeitsgesellschaft ab, die im Keller der angrenzenden Ölmühle ihr Fest feierten, ohne uns jedoch abzulenken in unserer hochherrschaftlichen Stimmung.
Nun standen eben dieser Don Perignon, sowie ein Menü aus frischem Fisch, Gemüsen und Baguette vor uns und ich plante, mich so schnell wie möglich zu betrinken um endlich, ja wirklich endlich einmal in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen, wenigstens für sechs bis acht Stunden, denn ich litt unter Albträumen solange ich denken konnte.
Und dieser Ort, dieses Paradies erschien mir die optimalen Voraussetzungen zu bieten, um wieder traumlos schlafen zu lernen, wenn auch mit Hilfe mehrerer Gläser fruchtig-trockenen Rotweins.
Die Gewitterwolken hatten sich in Windeseile zu einer bemerkenswerten Front zusammengebraut.
Aber was ging mich das an, hier auf der Terrasse in der milden Wärme dieses idealen Abends.
Aus der Ölmühle herüber klang belanglose Tanzmusik und oberhalb der Eingangstür hockte ein handtellergroßer schwarzer Käfer und rührte sich nicht.
Mit halbgeschlossenen Augen hing ich zwischen südfranzösischem Abendrot und Verwunderung ob dieses merkwürdig großen Käfers, von dem ich hoffte, er bliebe dort wo er war, denn dort war er vor mir und ich vor ihm sicher.
Mein Liebster verrenkte die Beine unter dem Tisch, räkelte sich behaglich auf seinem Stuhl, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, seufzte satt und zufrieden mit sich und der Welt.
„Was haben wir es doch gut. Welch ein Abend in diesem Paradies.“
Ein heiliger Moment.
Ein Augenblick des Friedens und Liebe, die in der Ölmühle, nur einige Meter von uns entfernt, tanzend und singend gefeierte wurde.
Eine Hochzeit, vielleicht die Krönung einer Liebe mit Herzfreude und lebensfroher Leichtigkeit.
Und wir in unserer Zweisamkeit, zwar am Rande und Zuschauer des Festes und doch angesteckt von der Atmosphäre seiner Einmaligkeit.
Mit einem Mal ein Zischen, hinter uns, neben uns.
Aufschreckend, bedrohlich, dunkel, aus heiterem Himmel, ohne Vorwarnung.
Ein Zischen, sekundenschnell wie ein Heer fliehender Pfeile oder eher einer Kanonenkugel und dann ein Knall.
Stille.
Dunkelheit.
Wenige Sekunden später dumpfes, tiefes Donnergrollen, als wolle Petrus persönlich eine Warnung an uns richten.
Kein Laut aus der Ölmühle. Keine Musik, kein Lachen, kein Gesang.
Stille.
Dann nach kurzem Luftholen öffneten sich Türen, liefen Menschen aus dem Hotel hinüber zur Ölmühle.
Aufgebrachte Stimmen, Rufe, Anweisungen und mittendrin der Liebste und ich, die Gläser noch in der Hand, erschrocken, erstarrt und was um Himmels Willen war das denn jetzt.
Taschenlampen auf dem Weg zur Hochzeitsgesellschaft.
Ängstliche Blicke.
Sollen wir helfen? Brauchen Sie unsere Hilfe?
„Non, non, non. Restez la, síl vous plait. Restez la.“
Wir standen herum, mal hier mal da. Wagten uns nicht von der Stelle, nur Meter für Meter, entlang der Terrasse.
Nach wenigen Minuten. Entwarnung.
Ein Kugelblitz.
Es war ein Kugelblitz, der auf dem Weg in die Ölmühle an uns vorbeiraste, um dann in dem alten Gebäude einzuschlagen, aber mit mehr Krach als Kraft, und niemand kam zu Schaden außer der elektrischen Anlage und die sei komplett hinüber.
Ein Kugelblitz.
Noch nie gehört. Ein zischender elektrischer Energieball mit großer Wirkung, wenn er richtig trifft.
So richtig hatte er offenbar nicht getroffen.
Es gab keinen Brand. Die Hochzeitsgesellschaft geschockt aber unbeschadet. Die Hochzeit unvergesslich, aber was nun?
Wir stellten uns diese Frage nicht, sondern verließen die Terrasse, zumal es kalt und dunkel wurde.
Vielleicht noch ein wenig auf dem kleinen Balkon unseres Zimmers sitzen und den Tag ausklingen lassen, denn an schlafen war nicht zu denken, zu tief saß der Schrecken und brauchte seine Zeit.
Vom Balkon aus ein Blick über den Park, der im Dunkeln des nachlassenden Gewitters südfranzösisch, mystisch vor uns lag. Die Luft kühlte sich ab, die Nachtinsekten machten sich auf.
Nach einer Weile öffnete sich im Nachbarzimmer die Balkontür und eine junge Frau kam hinaus, lehnte sich über das Gelände und schüttelte den Kopf. Ein Mann trat hinzu und legte seine Arme um sie.
„Bon soir.“
„Bon soir.“
Der Mann winkte herüber, ging zurück ins Zimmer um einige Sekunden später erneut herauszutreten, dieses Mal mit einer Flasche in der einen und Gläser in der anderen Hand.
„Champagne?“
Der Liebste und ich schauten uns an und lachten.
„Mais Oui, merci.“
„Sind sie Deutsche?“ fragte die junge Frau, „oder Schweizer?“
„Ja, Deutsche. Kommen Sie doch herüber, wenn sie mögen.“
Und schon waren sie da.
Es stellte sich heraus, dass sie Französin war und etwas deutsch sprach, während er aus Canada stammte und nur englisch sprach.
Der Liebste und ich sprachen beides mittelprächtig und es entstand ein lustiges Kauderwelsch.
Die Gläser waren schnell gefüllt und die Flasche noch schneller geleert.
„Waren Sie auf der Hochzeit in der Ölmühle?“ fragte ich.
„Mais Oui,“ lachten beide, „wir sind das Brautpaar.“

Und während auf einmal wir ungeahnt zur Hochzeitsgesellschaft wurden, dachte ich darüber nach, wie „blitzartig“ sich doch das Leben verändern kann.