Sprachlosigkeit

Sprachlosigkeit
Es ist immer ihr Lachen.
Nach dem Braten kommt der Kuchen, nach dem Kaffee kommt das Bier.
Dann der Schnaps. Mit dem Schnaps kommt das Lachen.
Jedes verdammte Jahr.
Es dauert Tage bis es aus meinen Ohren verschwunden sein wird.
Aus meiner Seele verschwindet es nie.
Das Lachen trifft meine Seele an ihrer verwundbarsten Stelle.
Es gelingt mir immer noch diese Wunde offen zu halten.
Dafür hasse ich mich.
Sie lachen nicht miteinander. Das ist tröstlich. Sie lachen, damit die Zeit vergeht, damit der Morast unter dem Teppich hart wird, sich betoniert.
Die gleichen Witze, die gleichen hämischen Geschichten.
Jedes Jahr dasselbe quälend falsche Gelächter.
An jedem verfluchten elften Februar, solange ich denken kann.
Großvaters Geburtstag.
Die Familie fühlt sich verpflichtet. Man trifft sich.
Blumen, Wein, Zigarren.
Langsam gehen die Ideen für die Geschenke aus.
Egal, man trifft sich trotzdem. Trotzdem trifft man sich. Begrüßt sich, küsst sich auf die Wangen. Lacht. Ja, bloß immer die Zähne auseinander, auch wenn`s schwerfällt.
Fällt hier überhaupt irgendjemandem etwas schwer, außer mir?
Der Großvater hat keine Ahnung.
Die Großmutter hatte eine Ahnung. Nein, nein, wo ist der Teppich?
Vater kennt die Wahrheit. Teppich, der Mutter zuliebe.
Mutter kennt mehr als die Wahrheit. Zerbricht langsam daran.
Wer kann schon heißes Fett mit bloßen Händen unter Kontrolle halten? Teppich.
Die Geschwister. Weit weg.
Du immer mit deinen Animositäten.
Tante kennt die Wahrheit. Kennt die Wahrheit, maskiert sie als Lüge. Wahrheit, der Feind. Teppich. Blindenbinde am Oberarm. Erwachsene lügen nicht, Kinder schon.
Cousinen, Cousins im oberen Bereich der Großelternverliebtheit. Geradezu perfekt.
Der Onkel, das Schwein.
Sie kommen alle. Und mit ihnen das Lachen.
Ich atme. Was soll ich sonst machen. Einatmen, ausatmen.
Tür auf, Tür zu. Bitte kommt herein. Die Tafel ist gedeckt.
Nein, keinen Wangenkuss. Nein, bitte nicht.
Hallo, dort ist die gedeckte Tafel.
Großvaters Wangen, zwei leuchtende wacholdergerötete Lachbällchen. Der Pastor war schon da. Seit dem Achtzigsten kommt der regelmäßig.
Stimmengewirr.
Mittendrin die unverkennbar, gutturale Bierbauchstimme des Onkels.
Keine Worte, keine Sätze. Nur Stimme, nur Ton, nur Erinnerung.
In meinem Nacken der Blick meiner Mutter.
Selbst beim Wangenküssen und beim Frankfurter Kranz verhakt er sich fest in meiner Haut.
Ihre Augenränder bekommen Kratzspuren mit dunklem Hauch. Sie beobachtet mich, passt auf.
Sollte die Stimmung kippen, ja, das traut sie mir zu. Das traut sie mir seit dreißig Jahren zu. Sollte sie kippen, die Stimmung, will sie die erste sein. Die erste, die was…?
Mein nicht lachender Mund treibt allen Wissenden den Angstschweiß unter die Haut. Da muss er bleiben. Einen ganzen Nachmittag lang.
Nach dem ersten Likör lässt der Druck nach.
Ich sehe nichts.
Schaue in den Raum. Trage die Kuchen auf, die Kaffeekannen. Später die kalte Platte und die Erdnussschalen. Versorge die Anwesenden mit alkoholischen Getränken. Mache mich nützlich.
In Bewegung bleiben.
Niemals in all den Jahren wäre ich auf den Gedanken gekommen, am Geburtstagstisch Platz zu nehmen. Niemals.
Bis heute.
Sie ahnen es.
Ihr Lachen bricht zuweilen plötzlich ab.
Die Augen meiner Mutter finden keinen Halt in meinem Nacken.
Mein Gang ist beschwingt.
Tante trägt heute Pink.
Der Cousin ist stark bekifft.
Großvater holt die Mundharmonika hervor.
Mein Bruder die Kamera.
Ich halte ihn am Ärmel fest und weise ihn an.
Der Onkel mit den verdreckten Händen zieht den Kopf ein. Mein Bruder hält mit der Kamera auf ihn zu.
Ein tiefer Frieden schwingt in meinen Bauch. Ich setze mich auf einen Stuhl. Meine Augen weisen dem Bruder den Weg.
Um die Schmutzaura herum. Ob man sie später auf dem Film erkennen kann?

In den vergangenen dreißig Jahren verließ ich die Geburtstagsfeier des Großvaters immer nach getaner Arbeit. Das Geschirr war gespült, die Kuchenreste unter Alufolie verpackt. Flaschen und Gläser aufgefüllt.
Aufgefüllt, damit die Feier richtig losgehen konnte, wenn ich weg war.
Mein Abgang war der Startschuss für den gemütlichen Teil des Abends.
Aufatmen. Der Teppich lag fest, unverrutschbar.
Zurücklehnen. Augen entspannen. Reich doch den Likör noch einmal rüber.

Allein zu Hause in meinem Sessel brach in mir jedes Jahr ein wenig mehr Herzraum weg. Nur der Tod meines Großvaters erschien mir als Lösung. Nur der Tod.
Bis heute.
Heute ist alles anders.
Heute beginne ich mich zu lieben.
Mutter wittert Gefahr.
Wieder sind es ihre Augen, die versuchen mich zurecht zu weisen.
Tu es nicht. Sei still.
Lass die Wahrheit in deiner Kehle stecken. Halt den Mund.
Geh. Geh.
Vor einem Jahr, als ich noch ein kleines Mädchen war, wäre ich wie gewohnt bei diesem Blick verstummt.
Als ich ein kleines Mädchen war, vor einem und dreißig Jahren.
Im nächsten Monat werde ich vierzig.
Tante und Onkel ahnen nichts. Klatschende Hände beim lächerlichen Mundharmonikaspiel. Klatschen in die Hände und glauben fest an die Sterblichkeit von Nichtgesagtem.
Trügerisch zu glauben, dass Schweigen so viel wie gestorben bedeutet.
Ich habe keinen Plan.
Überraschendes geschieht.
Innen in mir nehme ich mich in den Arm.
Auf dem Stuhl sitzend lege ich die Hände in den Schoß.
Der Bruder mit seiner Kamera wirbelt für mich den Staub auf. Der Staub trifft mich nicht.
Mein Atem ist frei.
Die Geburtstagsgäste hüsteln.
Großvater verliert sich in seiner mundharmonikageschwängerten Erinnerung, Odessa neunzehnhundertdreiundvierzig.
Vater schlägt mit seiner Faust nach dem Bruder.
Mutter versucht ein Gespräch gegen das Haschischgekicher des Cousins.
Großmutter schüttet Likör nach. Nun trinkt doch noch einen, Kinder. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.
Ein Seitenblick der Tante.
Verwirrung.
Ein Glas fällt um. Jetzt schlägt auch sie nach dem Bruder und seiner verdammten Kamera.
Lass das.
Der Bruder lacht. Er hat ja keine Ahnung.
Reich mir mal den Rotwein rüber.
Der Onkel schwankt. Zieht den Kopf ein.
Das erste Wort von mir an ihn seit mehr als dreißig Jahren.
Er gehorcht.
Jetzt bitte das Glas.
Es wird bereits dunkel im Zimmer. Ein letzter langgezogener Ton aus der Mundharmonika.
Das Glas steht vor mir. Langsam fließt der Rotwein hinein, halb voll nur. Die Flasche gehört jetzt mir.
Eine Stimme lispelt in meinem Kopf.
Eine Stimme in einem bunten Kinderschlafanzug.
Ein Kinderkuss auf meinem Herzen.
Schau ihn dir an. Schau sie dir alle an. Die Stimme lacht.
Das Lachen ist jetzt in mir.
In mir, wo dreißig Jahre lang die Scham zuhause war.
Die Scham hat sich einen anderen Wirt gesucht.
Hat sich den Wirt gesucht, zu dem sie gehört. Der, der sie geboren hat.
Meine Stimme und ich räkeln uns auf dem Stuhl, schenken uns noch einmal ein und heben den Blick.
Schauen, so wie die Kamera meines Bruders, die Menschen an.
Das gleiche Blut und doch niemals dasselbe.
Ein einziger Schritt zur Seite verändert die Vorzeichen.
Dämonen wechseln die Plätze.
Wähne dich nur niemals zu sicher.
Ich trinke den Wein, ziehe mir die Schuhe aus.
Der Cousin fällt mit dem Kopf auf den Tisch und schläft ein.
Großvater und Großmutter ziehen sich in vergangene Welten zurück.
Die Eltern geben ihren Widerstand auf und schweigen.
Onkel und Tante rücken zur Seite.
Blicke schweifen verstört durch den Raum. Sammeln sich in einem Punkt unter dem Tisch.
Sie erheben sich. Ziehen ihre Mäntel über. Schauen durch mich hindurch, an mir vorbei.
Tante stolpert über den Teppich.
Den Onkel fegt der Wind hinaus.